Mein Kopf, die Killerspiele und ich: Die Selbstreflexion eines Gamers

von Max Hohenwarter 27.07.2016

Nizza am Donnerstag, dem 14. Juli: Ein Attentäter tötet 84 Menschen und verletzt 200 weitere PassantInnen teilweise schwer, indem er zielgerichtet einen 19 Tonnen schweren Lastwagen in eine Ansammlung Feierfreudiger lenkt. Freitagnachmittag: Ich sitze vor meiner PS4, zocke Carmageddon: Max Damage, und meine Aufgabe ist es, mit meinem klingenbewehrten Boliden 200 Peds umzufahren, um den Level zu beenden. Ich habe Spaß und trotzdem ein mieses Gewissen … die Selbstreflexion eines Gamers und Gore-Nerds.

Killerspiele töten keine Menschen

Nur um das gleich klarzustellen und etwaige Hoffnungen zu zerstreuen: Dieser Artikel wird sich nicht irgendwelchen reißerischen Theorien, ob und wie der Terrorist von Nizza, der Amokläufer von München oder andere, die bereits Blut vergossen haben, durch sogenannte Killerspiele beeinflusst worden sein könnten, widmen. Das wurden sie nämlich nicht, und diese Theorie soll hier auch nicht aufkommen. Das waren einfach feige und erbärmliche Menschen, die laut letzten Angaben an Depressionen litten oder sonst irgendwie nicht mit der Welt klarkamen. In ihrem Wahn dachten sie, andere mit in den Abgrund reißen zu müssen. Tragischerweise haben sie diesen Gedanken dann auch umgesetzt und ihr Leid anderen aufgebürdet. Punktum.

nizza attentat

In diesen Ausführungen wird es darum gehen, wie sich mit zunehmendem Alter und meinem sich entwickelnden Blick auf Politik und das allgemeine Weltgeschehen meine Beziehung zu virtueller Gewalt verändert hat, wie ich mich nicht mehr so ohne Weiteres dieser vollkommen konsequenzlosen und nicht minder rohen digitalen Gewalt hingeben kann, ohne dass sich mein Gewissen dazwischenschaltet, aber auch, warum das gut ist! Doch um euch einen Überblick über meine langjährige Liebesbeziehung zur Pixelbrutalität zu geben, sollte ich womöglich mein bisheriges Gamer-Leben Revue passieren lassen.

Tausche Märchenland gegen Keilerei

Gamer bin ich nun schon seit über zwei Dekaden. Ich war ca. fünf Jahre alt, als meine Schwester einen grauen Klotz zu Weihnachten bekam, den ersten Game Boy. Ab dann war es geschehen, und meine Seele wurde der digitalen Unterhaltung verkauft! Stundenlang zockte ich Tetris und hüpfte mit dem beleibten Klempner Mario durch Sarasaland, um Prinzessin Daisy zu retten.

Gameboy_Tetris_Super_Mario_Land

Doch bald wollte ich aus diesem Märchenland ausbrechen. Ich wollte Action! Da kam mir Street Fighter 2 Turbo gerade recht. Meine Eltern hatten die besten Absichten und überraschten mich mit dem Modul zum Geburtstag. Gutgläubig, wie sie waren, überprüften sie zu meinem Glück das Alterssiegel nicht, denn Street Fighter 2 Turbo war eigentlich ab 16 Jahren freigegeben. Ich glaube, dass ihnen ab dem Zeitpunkt, ab dem sie mich und meine Schwester virtuell auf dem Bildschirm herumraufend und aggressiv auf die Tasten des Controllers einhämmernd sahen, bewusst wurde, was sie da angerichtet hatten.

StreetFighter2Turbo

Mord ohne Opfer

Meine Zockerkarriere schritt voran, die Plattformen wechselten, und mit der Zeit, die dahinfloss, strömte auch exponentiell mehr Blut aus den virtuellen Körpern. Natürlich war ich für sämtliche konsumierte Unterhaltung noch immer zu jung, und genau das machte den Reiz aus. Es war verboten! Während dieses Nervenkitzels genoss ich jeden Milliliter Pixelblut und freute mich, wenn Leichenteile durch die Luft flogen.

gta 1 2

Aber es war subjektiv gesehen weit weniger verwerflich, als das jetzt klingt. Es war konsequenzlose, martialische Unterhaltung, wenn ich im ersten Grand Theft Auto die Leute zu Klump fuhr und dafür Punkte kassierte. Niemand – außer vielleicht mein sich entwickelndes Ego – wurde verletzt, als mir mein Schulfreund in Mortal Kombat auf seinem 486er den Kopf mitsamt Wirbelsäule aus dem Körper riss!

mortal kombat 2 fatality

Und auch wenn mein virtuelles Leben in Doom 2 ein Ende fand, musste ich nur eine Taste drücken, und die Reihe aus Einsen und Nullen ging ebenso weiter wie das Metzeln mittels BFG. Mein reales Leben wurde dadurch jedoch nicht verändert. Ich wollte fortan niemanden umbringen, Tiere quälen oder sonstige Verbrechen begehen, die irgendjemandem geschadet hätten.

Schöner morden!

Vieles wurde dabei dem eigenen kranken Hirn überlassen.

Mittlerweile bin ich 31 Jahre alt, aber so vieles hat sich zwischenzeitlich verändert. Im Bezug auf Videospiele ist es vermutlich vornehmlich die Grafik. In früheren Zeiten musste man sich noch anstrengen – also zumindest seine Fantasie. Denn wenn in Doom 2 die Leichen der Besessenen zusammensackten, war das ein relativ grober Pixelbrei, den das Kopfkino erst einmal in einigermaßen schockierende Bilder umwandeln musste. Vieles wurde dabei dem eigenen kranken Hirn überlassen. Heute ist das ganz anders.

doom 2

Mittlerweile besteht nahezu jeder Blutstropfen aus unzähligen Polygonen, und die Gewaltfantasien entstehen nicht mehr im Kopf. Sie sind in höchstem Detailgrad auf dem Bildschirm zu sehen, und zwar so realitätsnah wie nie zuvor! Auch die Klangkulisse wurde natürlich viel besser, martialischer und psychisch fordernder. Mittlerweile hat man oft das Gefühl, die einzelnen Muskelstränge reißen zu hören, und wenn in Mortal Kombat X ein Genick gebrochen wird, geht einem das nicht nur auf, sondern vor dem Bildschirm durch Mark und Bein.

Mortal Kombat XL

Aus den Augen, aus dem Sinn

Doch es fanden nicht nur Veränderungen statt, sondern vor allem Vertiefungen. Mein Blick auf die Welt wurde räumlicher. Jede Gräueltat, jedes Kriegsverbrechen, jeder terroristische Akt prasselt mittlerweile aus allen möglichen Kanälen – ob ich möchte oder nicht – auf mich ein. Als Kind habe ich all das nicht wirklich wahrgenommen, beziehungsweise wenn, dann hat es mich nicht wirklich gejuckt.

carmageddon 2

Das waren Dinge, die viel zu weit weg waren, als dass sie mein Leben zu betreffen schienen. PolitikerInnen waren irgendwelche SpießerInnen in feinen Anzügen, deren Worte damals noch weniger Inhalt boten, geschweige denn Sinn ergaben. Was für mich zählte, war der Highscore bei Carmageddon 2 und wie meine Kill-Death-Ratio bei Unreal Tournament aussah.

unreal tournament 2

Realitätsverlust vs. Realitätsflucht

Es gibt mir eine Art Kontrolle wieder

Doch mit dem Älterwerden – besonders meiner Generation – ist das so eine Krux. Seit meinen Mittzwanzigern fange ich nun an, das aktuelle Tagesgeschehen und die Politik zu verfolgen. Die Möglichkeiten hierzu sind aber mittlerweile unüberschaubar. Damals standen die neuesten Informationen erst am nächsten Tag in der Zeitung. Seit dem Anbruch des Informationszeitalters und mit Aufkommen des Internets ist das anders geworden.

Mein bisheriges Refugium vor dieser von den Medien derart ausgeschlachteten Grausamkeit

Die eine, wahre Wahrheit und die korrekten Zahlen gibt es im Zuge diverser medialer Berichterstattung nicht mehr. Viel gnadenloser als früher prasseln die Infos – meist sogar noch unmittelbar im Live-Ticker, über Twitter oder andere soziale Medien – auf mich ein. Ich muss mir einen Filter für diese Flut aufbauen, weil ich sonst von ihr überrollt werde. Das Schlimmste daran ist aber, wie schutzlos man alldem ausgeliefert ist. Lassen wir doch einfach nur die letzten zwei Wochen medial Revue passieren: Nizza, München, Würzburg, Ansbach. Überall in diesen Städten kam es zu Attacken gegen Unschuldige. Man kommt sich aufgrund dieser Überinformation vor wie in einem Kriegsgebiet, obwohl wir statistisch gesehen in Europa nie sicherer waren.

Mein bisheriges Refugium vor dieser von den Medien derart ausgeschlachteten Grausamkeit in der wirklichen Welt waren seit jeher Videospiele. In ihnen ist man in den meisten Fällen ein/e strahlende/r HeldIn, eine unaufhaltsame Urgewalt, die das Böse in die Schranken weist. Egal, ob Geralt von Riva, Ezio Auditore oder der Doom-Marine. Mit einem Mausklick sorgt man für Ordnung im Chaos, führt das Gute zum Sieg. Blutfontänen schießen aus den Armstümpfen der bösen Buben und Mädchen. Ich verziere ihre korrupten Visagen mit kaltem Stahl. Nazis lasse ich in Wolfenstein ihre eigene Unmenschlichkeit kosten, indem ich ihnen Kugel um Kugel in ihre von Hass zerfressenen Körper jage.

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Wenn ich digital Gleiches mit Gleichem vergelte, dann wohnt meinem virtuellen Handeln biblische Gerechtigkeit inne. Es gibt mir eine Art Kontrolle wieder, die ich im realen Leben nicht habe. Aber sobald ich das Spiel beende, verspüre ich nicht mehr den Drang, diesen archaischen Ausgleich zu vollziehen. Ich weiß nämlich, dass wir in einem Rechtsstaat leben, und nicht in einer Anarchie. Rechtsmacht geht in Europa vom Staat aus. Er besitzt das Monopol dazu. Zudem bin ich doch um keinen Deut besser als irgendein/e verblendete/r ExtremistIn, wenn ich mir das Recht herausnehme, reale Gewalt anzuwenden, um Rache zu üben. Wenn ich mich erdreiste, sozusagen der verlängerte Arm einer höheren Macht zu sein. Im wirklichen Leben weiß ich, dass ich in diesen Teufelskreis nicht eintreten kann und werde.

Egal, was Herr de Maizière sagt: Computerspiele voller Gewalt machen SpielerInnen nicht zu realen KillerInnen. Sie lehren sie auch nicht, wie man eine Waffe abfeuert, lassen die Schulter nicht schmerzen, weil ein Rückstoß trifft, und erst recht verzerren sie bei einem geistig gesunden Menschen nicht die Wahrnehmung. Ich zocke die sogenannten Killerspiele seit meiner frühesten Jugend. Geht man nach dem Konsens sogenannter ExpertInnen, hätten mich diese Games gerade in diesen prägenden Jahren entsprechend verderben müssen.

Die Killerspiel-Gretchenfrage

Wie hab ichs denn nun mit der Gewalt in Videospielen?

Dass brutale Videospiele in keiner Beziehung zu abscheulichen Taten, wie beispielsweise Nizza, München oder zuletzt Ansbach, stehen, ist auch mehrfach wissenschaftlich belegt. Die letzte Langzeitstudie hierzu stammt aus dem Jahr 2014. Doch wichtig ist nicht, was Statistiken oder vermeintliche ExpertInnen sagen. Wichtig ist die subjektive Einstellung zu medialer Gewalt.

In diesem Sinn: Wie hab ichs denn nun mit der Gewalt in Videospielen? Fakt ist: Wenn man, so wie ich, zwangsläufig das aktuelle Tagesgeschehen in sich aufsaugt, sieht man durchaus die Parallelen, und so sorgt es bei mir zeitweise für den ein oder anderen Gewissensbiss.

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Bei mir hat zum Beispiel mit dem Spielen von Carmageddon: Max Damage dieser Mitdenkprozess wieder eingesetzt. Ich habe mich ernsthaft gefragt, ob es wohl pietätlos ist, an genau diesem Game vor dem Hintergrund des Nizza-Attentats Spaß zu haben. Im Brutalo-Raser bin ich kein ritterlicher Kämpfer für das Gute. Ich bin ein irrer Rowdy, der PixelpassantInnen aus Spaß an der Freude zu rotem Matsch zerdrückt. Ich habe mich in diesem Moment so gefühlt, als säße ich im 19-Tonner.

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Warum habe ich dann doch ein paar Tage später weitergezockt und mit meiner Selbstgeißelung aufgehört, könntet ihr mich jetzt fragen? Und jetzt kommts: weil ich grundsätzlich Spaß an der überzogenen Splatter-Orgie hatte! Allein dadurch, dass ich mir zumindest ein paar Minuten Gedanken über mein virtuelles Handeln machte, nachdachte, ob ich in der Wirklichkeit auch fähig wäre, so etwas zu tun, und das für mich komplett ausschließen konnte, ergab sich für mich die Legitimation, diese groteske Metzelei lustig finden zu dürfen. Ich denke, dass auch genau das den richtigen Weg bildet, damit umzugehen. Nicht nur blindes Konsumieren, sondern auch gelegentliches Reflektieren darüber, so wie beispielsweise mein Kollege Bernhard.

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Solange man sozial gefestigt ist und definitiv einen Unterschied zwischen dem Geschehen auf dem Bildschirm und jenem in der Realität herzustellen vermag, ist man außer Gefahr. Dann ist es auch kein Problem, in diversen Gore-Orgien die von mir angesprochene Illusion einer Kontrolle zu genießen, ja Spiele sogar als Ventil für angestaute Aggressionen zu nutzen. Jede/r muss einmal Dampf ablassen, egal, wie er/sie es macht. Solange niemand anderes dabei zu schaden kommt. Was eignete sich hierzu besser, als konsequenzlose Splatter-Orgien auf der Mattscheibe?

Das Unberechenbare in allen Gleichungen ist immer der Mensch selbst. Ob er sich dazu entschließt, digital erlebte Gewalt in der Realität anzuwenden, hängt nur davon ab, wie psychisch labil er ist und wie gut er Virtualität und Realität auseinanderhalten kann.

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drizzt

saucool Max!
Ich seh dich beim lesen dieser Zeilen vor meinem geistigen Auge! Der Text ist original DU!
ein ehemaliger Klassenkamerad!

[…] Mein Kopf, die Killerspiele und ich: Die Selbstreflexion eines Gamers […]