Ghost of Yōtei (Test): Malerische Reise in großartigem Style
Ghost of Tsushima zeigte uns damals, wie eine epische japanische Open World mit Samurai- und Ninja-Flair aussehen kann. Ghost of Yōtei knüpft nahtlos daran an und erweitert die Ghost-Reihe mit frischen Ideen. Im Mittelpunkt steht zwar eine simple Rachegeschichte, doch sie wird in einer atemberaubend schönen und fesselnden Spielwelt erzählt.
Rache ist Familiensache
Lasst euch ins Japan des Jahres 1603 entführen – auf die nördliche Insel Ezo (heute als Hokkaidō bekannt) – und folgt der Geschichte von Atsu, einer entschlossenen Kriegerin, die sich ihrer Vergangenheit stellt und für die Ehre ihrer ermordeten Familie kämpft.
Sechzehn Jahre nach der grausamen Hinrichtung ihrer Angehörigen kehrt Atsu nach Ezo zurück, um die Verantwortlichen zu finden und zu bestrafen. Sie jagt die Mitglieder der sogenannten „Yōtei Sechs“: Lord Saitō, der die Gruppe anführt, sowie seine fünf loyalsten Gefolgsleute – allesamt mit einzigartigen Fähigkeiten und Persönlichkeiten.
Ihr Vorteil: Die Bande glaubt, Atsu sei damals ihren Verletzungen erlegen. Als Onryō, als Geist der Rache, wächst ihre Legende mit jedem getöteten Mitglied der Gruppe. Doch ihre Reise führt sie nicht nur zur Vergeltung, sondern auch zu neuen Erkenntnissen über sich selbst.
Auf ihrem Weg trifft Atsu auf alte Bekannte aus ihrer Kindheit und gewinnt neue Verbündete – Waffenmeister, Händler, Musiker, Geschichtenerzähler und Freunde. Gemeinsam bilden sie ein Rudel treuer Gefährten, und manchmal schließt sich sogar eine echte Wölfin ihrem Kampf an. Am Ende steht Atsu an der Spitze eines eigenen Wolfsrudels – mit Freunden, Verbündeten und Weggefährten.
Doch Atsu ist nicht die Einzige, die für Ordnung sorgt: Der Matsumae-Klan kämpft seit Jahren gegen Banditen, die den Norden unter ihre Kontrolle bringen wollen. Atsu hilft, wo sie nur kann – Bauern, Mönchen, Pilgern oder Dorfbewohnern – vor allem, wenn eine Belohnung winkt.
Die Handlung entfaltet sich in einer offenen Welt, in der ihr selbst entscheidet, in welcher Reihenfolge ihr die Mitglieder der Yōtei Sechs konfrontiert. Themen wie Rache, Erlösung und Gerechtigkeit prägen Atsus Reise – und Ghost of Yōtei schafft es, diese düstere Geschichte auf beeindruckend atmosphärische Weise zu erzählen.
Rascher Rückblick
Ein besonderes Highlight ist die Rückblick-Funktion: An bestimmten Orten könnt ihr per Knopfdruck in Atsus Vergangenheit reisen. So erlebt ihr ihre Kindheit und erfahrt, wie und warum ihre Familie Lord Saitō zum Opfer fiel.
Der Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit geschieht beeindruckend fließend – ganz ohne Ladezeiten. Dadurch lassen sich das verfallene Anwesen von heute und das lebendige Zuhause von damals direkt vergleichen, was eine emotionale Bindung zu Atsus Familie schafft. Erwartet hier jedoch kein riesiges Feature: Es ist eher ein Fenster in die Vergangenheit, in dem kleine Interaktionen stattfinden – keine vollständigen Missionen.
Apropos Ladezeiten: Die Technik der Entwickler Sucker Punch und der PlayStation Studios grenzt erneut an Magie. Schon bei Ghost of Tsushima waren die Ladezeiten blitzschnell, doch Yōtei legt noch eine Schippe drauf. Schnellreisen erfolgen sofort, und selbst das Starten des Spiels nach dem Einschalten der Konsole dauert kaum eine Sekunde. Vom Icon im Menü gelangt ihr direkt an den Punkt, an dem ihr aufgehört habt – ganz ohne „Fortsetzen“-Bildschirm oder Ladebalken. Einfach genial.
(Death Stranding 2 macht das ähnlich – hoffentlich wird das der neue Standard.)

Atsu vor dem Berg Yōtei
Die Welt, wie sie mir gefällt
Was schon in Tsushima beeindruckte, ist in Yōtei schlicht überwältigend. Die Insel Ezo präsentiert sich in einer Vielzahl spektakulärer Landschaften – jede schöner als die andere – und bietet unzählige Aktivitäten, die euch ständig vom Hauptweg abbringen.
Schon der erste Ritt durch ein weißes Blumenfeld verschlägt einem den Atem – und das Staunen hört nicht mehr auf. Dazu hilft das minimalistische HUD, welches die Aufmerksamkeit auf die wunderschöne Gegend lenkt. Von grünen Wiesen über lavendelfarbene Hügel, orange-rote Ahornwälder, goldene Ginkgobäume und blaugraue Küsten bis hin zu schneebedeckten Bergen und rosafarbenen Kirschblüten.
Wie im Vorgänger führt euch der Wind zum Ziel, während Rauchschwaden, besondere Bäume, Tiere oder Klänge euer Interesse wecken. Das System war schon nahezu perfekt, wurde aber um neue Ideen ergänzt: etwa schauriges Wolfsgeheul oder natürlich wirkende Zufallsbegegnungen. Atsu trifft auf hilflose Reisende, wandernde Händler oder freche Banditen – überall warten kleine Geschichten, die die Welt lebendig machen, ohne das große Ganze zu stören. Ob ihr einem Mönch zu einem Schrein folgt, entlaufene Pferde einfangt oder einen Brückenbau beaufsichtigt – die Welt fühlt sich durchweg lebendig an. Wichtige Orte wie heiße Quellen, Altäre der Besinnung, Sumi-e-Gemälde, Außenposten, Duellplätze, Bambusstände oder hochgelegene Schreine belohnen euch mit kosmetischer Ausrüstung, Talismanen, Fähigkeiten oder Attributssteigerungen.
Kein Weg, auf dem die Zeit nicht vergeht
Eine kleine Warnung: Diese Welt ist so perfekt gestaltet, dass man ständig von einer Ablenkung in die nächste stolpert. Auf dem Weg zum nächsten Dorf entdeckt man Rauch am Horizont, hilft einem Händler, folgt einem Vogel zu einem Schrein, wird von Rōnin überfallen – und ehe man sich versieht, sind zwei Stunden vergangen, ohne dass man das Ziel erreicht hat.
Und dann gibt es da noch das Mini-Spiel „Zeni-Hajiki“ – ein süchtig machendes Münzschnips-Spiel mit hohen Einsätzen. Wer nicht aufpasst, verliert dabei nicht nur Geld, sondern auch jede Menge Zeit.
Ein fehlender Sprung
Das einzige wirkliche Manko am Gameplay – wie schon bei Tsushima – ist das Klettersystem. Atsu kann an vorgegeben Pfaden Felswände erklimmen, doch das Ganze fühlt sich steif und träge an. Dabei gäbe es so eine einfache Lösung: alle PlayStation Studio Games und ihre direkten Nachfolger (God of War, Horizon und eben auch Ghost) müssten nur das dynamische System von Unchartet oder Tomb Raider kopieren. Hier kann man durch Knopfdruck schneller klettern, was das Ganze dynamischer macht. Bei Yōtei kann man nur an bestimmten Stellen einen Sprung ausführen, wenn man aber einfach so X drückt, dann bleibt man einfach an der Wand kleben. Warum man hier erneut dieselbe starre Mechanik gewählt hat, bleibt mir ein Rätsel – hoffentlich lässt sich das per Update ändern.

pure Atmosphäre im Blumenfeld
Kampfeslust im Überfluss
Als gefürchteter Onryō streift Atsu meist allein durch den Norden Japans. Um für jede Situation gewappnet zu sein, greift sie auf ein beeindruckendes Arsenal zurück. Ihr einziges Erinnerungsstück an die Familie – das Katana ihres Vaters – begleitet sie über all die Jahre und dient zunächst als einzige Waffe. Doch schon bald erweitert Atsu ihr Repertoire: Dank verschiedener Meister im Norden erlernt sie den Umgang mit Doppelkatanas, Yari (Lanze), Ōdachi (Großschwert) und Kusarigama.
Das Kampfsystem folgt weiterhin dem bewährten Schere-Stein-Papier-Prinzip: Während des Kampfes wechselt ihr blitzschnell zwischen den Waffen, um die jeweils effektivste Antwort auf den Gegner zu finden – Schwert gegen Schwert, Doppelkatanas gegen Lanzen, Lanze gegen Kusarigama, Ōdachi gegen massive Hühnen.
Wer unfaire Methoden bevorzugt, kann zusätzlich auf Hilfsmittel wie Brand- und Blendbomben, Kunai sowie Pfeil und Bogen zurückgreifen. Besonders cool: Manchmal gesellt sich die Wölfin zu Atsu, greift bei Stand-Offs ein und sorgt im Kampf für zusätzlichen Schaden. Selbst bei heimlichen Attentaten passt sich das Raubtier geschickt an.
Neu ist auch die Möglichkeit, Gegner zu entwaffnen: Ihr könnt lose Waffen aufnehmen und sie dem Feind zurückwerfen – meist mit schmerzhaften Folgen. Doch Vorsicht: Geschickte Gegner können auch Atsus Waffen entwenden, sodass sie zeitweise mit bloßen Händen kämpfen muss – zumindest, bis sie ihre Waffe wieder aufhebt.
Da ist doch was im Busch
Kunai und Rauchbomben erhaltet ihr erst im Schneegebiet. Je nachdem, wann ihr dieses Gebiet erreicht, ist das Shinobi-Gameplay bis etwa zur Hälfte des Spiels etwas eingeschränkt. Ansonsten überzeugt das Kampfsystem voll und ganz: flüssige Bewegungen, schnelle Waffenwechsel und epische Konter- sowie Finish-Moves sorgen für intensive Gefechte. Alles reagiert genau so, wie ihr es am Controller eingebt – keine trägen Animationen stören den Ablauf. Wer KO geht, weiß genau warum. Hat man schließlich das Timing und alle Fähigkeiten verinnerlicht, lassen sich spektakuläre Duelle inszenieren.
Jedes Gebiet wird von einem Mitglied der Yōtei Sechs kontrolliert – und das merkt man im Kampf deutlich. Während die Anhänger des Oni lautstark mit Gebrüll, Feuer und Explosionen angreifen, greifen die Shinobi des Kitsune aus dem Hinterhalt an und stellen Fallen. Je mehr Mitglieder ihr ausschaltet, desto höher steigt die Alarmbereitschaft von Fürst Saitō. Gleichzeitig erhöht er das Kopfgeld auf Atsu, und die Präsenz von Elitekriegern auf der ganzen Insel nimmt zu.
Wem all das zu viel wird, kann seinen Frust auf humorvolle Weise ertränken: Sake-Fläschchen helfen, sich im Notfall zu heilen – und mit etwas schwindligem Gemüt kann man vielleicht doch die Oberhand gewinnen.
Gänsehaut Geschichten
Neben den klassischen Söldneraufträgen gibt es zahlreiche interessante Kopfgeldmissionen. Diese sind nicht nur wegen der Belohnung spannend, sondern vor allem wegen der vielfältigen und skurrilen Gegner, die gejagt werden müssen. Ob ihr einer schaurigen Hexe im Nebelwald auflauert oder einen schießwütigen Feuerteufel zur Strecke bringt – jede Mission bietet einzigartige Momente und trägt zur Lebendigkeit der Welt bei.
Noch faszinierender sind die mythischen Geschichten, die hier und da erzählt werden. Diese mitreißenden Erzählungen werden mit hochwertiger Inszenierung präsentiert, ihre Atmosphäre und ihr Design sind schlicht ausgezeichnet und einzigartig. Absolute Highlights, die bereits in Ghost of Tsushima beeindruckten, werden hier auf das nächste Level gehoben.
Musikalische Hilfestellung
Ebenso beeindruckend wie die visuelle Präsentation ist die musikalische Untermalung. Orchestrale Klänge und traditionelle japanische Instrumente verschmelzen zu einem vielseitigen Soundtrack – mal schnell und kraftvoll wie in alten Samurai-Filmen, mal ruhig und von Gesängen getragen. Im Spiel selbst kann auch wieder musiziert werden: Die Shamisen versetzt euch direkt mit Gänsehaut ins alte Japan und dient auch zur Orientierungshilfe in der Welt. So findet ihr gezielt bestimmte Orte und lenkt den Wind in die richtige Richtung.
Assassine gegen Geist
Es kam, wie es kommen musste: Im selben Jahr erscheinen gleich zwei ambitionierte Videospiele mit dem Schauplatz des feudalen Japan. Lasst euch aber gleich gesagt sein: Assassin’s Creed Shadows und Ghost of Yōtei lassen sich nur schwer direkt vergleichen. Sie ähneln sich in manchen Punkten, sind aber von Grund auf verschieden.
Beide Spiele greifen das Motiv der Rache auf und bieten Höhen und Tiefen in ihrer Erzählung. Die Welten beider Spiele sind beeindruckend, unterscheiden sich jedoch stark im Aufbau. Beide bieten tolle Ereignisse und Schauplätze, wobei Yōtei eine hochwertige Gestaltung und Shadows größere Interaktionsmöglichkeiten bietet. Yōtei setzt auf getrennte, offene Gebiete, die zum Erkunden einladen, während Shadows eine weitläufige, zusammenhängende Welt mit teils vorgegebenen Pfaden bietet.
Im Kampf liegt Yōtei eindeutig vorne: Man kann schnell zwischen allen Waffen wechseln, und das Kampfsystem macht durch seine Intuitivität deutlich mehr Spaß. Shadows ist hier limitiert, da man zwei Protagonisten steuert und die Ausrüstung eingeschränkt ist. Dafür überzeugt Shadows durch ein ausgereifteres Schleich-Gameplay.
Wie auch immer, beide Spiele sind fesselnde Abenteuer und erstklassige Repräsentationen Japans.
Ein großartiger Nachfolger
Ghost of Yōtei ist ein großartiges Beispiel für eine gelungene Fortsetzung: Das Spiel nimmt alles, was Ghost of Tsushima so besonders machte, und fügt ein paar neue Elemente hinzu. Erwartet keine bahnbrechenden Innovationen, sondern einfach mehr vom bereits Bekannten – mit ein paar Extras. Auch wenn Atsus Geschichte starke Momente bietet, hat sie mich nicht ganz so gepackt wie Jins Abenteuer. Das emotionale Beben, das Ghost of Tsushima am Ende hinterließ, bleibt hier etwas aus. Vielleicht wäre eine direkte Fortsetzung um Jin selbst stärker gewesen – oder Atsu hätte als potentielle Nachfahrin auf den Pfaden des ursprünglichen Geistes wandeln können.
Trotzdem überzeugt Ghost of Yōtei mit malerischen Landschaften, einem großartigen Kampfsystem, unzähligen faszinierenden Nebenbeschäftigungen, einer fesselnden Spielwelt, und einer stylischen Inszenierung!