Anno 117: Pax Romana im Test: Veni, vidi, addicti
- Publisher: Ubisoft
- Developer: Ubisoft Mainz
- Genre: Aufbauspiel/Wirtschaftssimulation
- Modi: Single- und Multiplayer
Veni, vidi, addicti. Ich kam, sah und war sofort wieder der Anno-Formel verfallen. Diesem unwiderstehlichen Gemisch, dem Annoholiker ebenso schwer entsagen können, wie ein Gallier dem Zaubertrank! Meine Preview zu Anno 117: Pax Romana war durchwegs optimistisch. Nun, nach etwa 100 Stunden Spielzeit und mehreren Wochen im antiken Rom ist klar: Anno 117 übertrifft meine hohen Erwartungen! Es ist das beste Anno bisher, und die Referenz in Sachen Städtebau.
Einordnung und Testumgebung
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Dieses Review basiert auf einer vollständig durchgespielten Kampagne, sowie mehreren freien Partien mit Start in Latium und Albion. Gespielt habe ich auf einem High-End-PC mit AMD Ryzen 7 7800X3D, 32 GB RAM und einer RTX 5080. Das Spiel lief dabei durchgehend butterweich und ruckelfrei in 4K auf Maximalen Details. Einmal – ganz zu Beginn meiner Testphase – habe ich einen Spielstand produziert, in dem das Spiel nur noch stotternd lief. Dieser Sonderfall ließ sich nicht reproduzieren und ist seither nie wieder aufgetreten.
Kampagne: Politik, Pathos und Provinzrealität
Die Kampagne ist mehr als ein überschminktes Tutorial. Ihr schlüpft wahlweise in die Rolle von Marcus Naukratius Nonus oder dessen Schwester Marcia. Beide Figuren sind – gemessen an Serienstandards – durchaus präsent, gut vertont und glaubwürdig inszeniert. Und die beiden Geschwister unterscheiden sich in der Handlung deutlich voneinander. Die Geschichte erzählt von Loyalitäten, Verrat und administrativer Kleinteiligkeit in einer Art, die die Anno-typische Tabellenromantik angenehm erdet: Ein Lieferstopp wird zur politischen Ohrfeige, ein Tempelbau zur Demonstration religiöser Macht, eine Handelsroute zum diplomatischen Hebel.
Spielerisch bestehen gefühlt zwei Drittel der Missionsziele aus offenem Städtebau, der euch kluge Selbstorganisation abverlangt. Das letzte Drittel setzt Eskalationsspitzen mit aristokratischen Intrigen, Feuersbrünsten und sonstigen Widrigkeiten. Besonders stark ist der erzwungene Ortswechsel in rauere Biome – ein Designkniff, der Komfortzonen aufbricht, ohne bisherigen Fortschritt zu entwerten. In Summe bleibt der Spannungsbogen stimmig – ich habe die Story nicht nur „abgearbeitet“, sondern gern erlebt.
Städtebau: Diagonalen, Blöcke und der eigene Stil
Der diagonale Wegebau ist kein Gimmick, sondern gelebte Freiheit. Wohninseln atmen, Plätze wirken organischer, Produktionsviertel lassen sich eleganter „verschachteln“. Und die Felder sehen nicht mehr aus wie rechteckige Kresse-Schachteln aus dem Supermarktregal, sondern schmiegen sich organisch an die umliegenden Wege. Hie und da entstehen dabei recht eigenwillig anmutenden Kreuzungspunkte, oder sägeblattartige Feldbegrenzungen, im Großen und Ganzen tut das Feature der Serie aber gut. Mein Rezept: Früh ein paar Hauptachsen festlegen, Nebenarme in 45-Grad-Winkeln abzweigen lassen und so lesbare Raster bauen, ohne dass die Stadt nach Reißbrett aussieht. Dass Gebäude- und Nachbarschaftsboni ihre Wirkungsradien mit fortschreitender Forschung und besseren Straßen erweitern, macht die Platzierungsrätsel angenehm knifflig.
Die Attribute: Weniger Black Box, mehr Entscheidungsstärke
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Die acht zentralen Attribute sind das Herz der neuen Bedürfnispyramide. Medici stabilisieren Gesundheit, Vigiles senken das Brandrisiko; Prestige funktioniert unterschwelliger und beeinflusst u. a. Handelsstimmung und bestimmte Events. Mit Bibliotheken und Theatern fördert ihr das Wissen eurer Untertan:innen, mit Tempelanlagen und Schreinen hingegen ihren Glauben. Wichtig: Positiv- und Negativeffekte sind lokal. Eine dicht gepackte Industriezeile aus Bäckern, Ziegelbrennern und Garum-Fabriken pushen zwar das Einkommen, steigern aber das Brandrisiko. Ein Grammaticus erzeugt Wissen und hebt zugleich Glücklichkeit, kann aber je nach Nachbarschaft Kosten/Nutzen kippen. Wer Spaß am Tetris mit Buffs, Reichweiten und Nachbarschaftsmodifikatoren hat, ist hier goldrichtig.
Bedürfnisse und Produktionsketten: Regionaler Charakter mit Biss
Latium und Albion spielen sich wirklich anders. In Latium startet ihr mit römischem Geschmack: Porridge, Makrelen, Oliven – wohlriechend, sauber, dekadent. In Albion herrschen rauere Sitten. Seife ist für die Kelten ein Fremdwort. Sie bevorzugen Aale, Muscheln und Bier. Das flexible Bedürfnis-System ist der stille Star: Nicht jede Zielgruppe braucht alles sofort, viele Wünsche sind optional oder ergänzen einander. Das gibt euch Freiheit, Inseln zu spezialisieren, ohne an der Vollversorgung zu scheitern.
Und Albion hat Humor. Zwischen schroffen Klippen, Nebelbänken und Marschland wirkt es bisweilen wie dieses eine berühmte gallische Dorf, das nicht müde wird den Eindringlingen Widerstand zu leisten. Wer dort römische Ordnung etablieren will, bekommt erst einmal nur Aale, Muscheln und trotzig schief verlegte Pfade – bis die Logistik greift und die Herrschaft des guten Geschmacks in Form von modischen Togen und geordneten Lieferketten einkehrt. Wer trägt denn auch bitteschön Hosen?!
Die vierte Stufe: Patrizier:innen und die Lust am Überfluss
Mit Stufe vier – den Patrizier:innen – ändert sich der Charakter eurer Stadt spürbar. Römischer Überfluss trifft auf harte Ökonomie. Schmuck, Austern und ja, auch das herrlich dekadente Vogelzungen-Aspik sind nur ein paar der Bedürfnisse, die es zu befriedigen gilt. Einige der Zutaten dafür stammen aus Albion, wie die besagten Vogelzungen, andere, wie Lavendel müssen aus dem sonnigen Latium importiert werden.
Schmuck verlangt eine verzweigte Kette aus Edelmetallabbau, Schmelöfen und Schmieden. Das erfordert kurze Wege, straffe Versorgung, soliden Brandschutz und ausreichend Arbeitskräfte. Manche Produktionsketten belegen wertvollen Hafenplatz, andere spärliche Fluss-, Sumpf- oder Bergbauplätze.
Vogelzungen-Aspik ist das Paradebeispiel römischer Dekadenz im Spieldesign: Wenn man diese Produktionskette gemeistert hat, hat man Latium und Albion wahrlich unterworfen. Ich habe gelernt, strategische Überschüsse aufzubauen, Spitzen abzufangen und Bedarfskurven zu glätten, ohne die Basisversorgung zu gefährden. Die Belohnung: Ein spürbarer Schub für Prestige, Glücklichkeit und die Stadtkasse. Luxusproduktion ist aufwändig und teuer, aber genau das macht das Endgame so befriedigend.
Glaube und Gottheiten: Creo ergo sum
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Glaube ist eine strategische Ressource mit Inselbezug. Jede Insel kann einer Gottheit gewidmet werden. Schreine sammeln Glaube in bis zu 3 Stufen, die entsprechenden Belohnungen sind spielentscheidend. Epona stärkt die Tierzucht, Ceres boostet die Landwirtschaft, Mars macht Militär- und Waffenketten effizienter. Das schlägt sich nicht bloß in der Produktionsgeschwindigkeit nieder. Bei der Feldwirtschaft müssen beispielsweise ganze Landstriche neu organisiert werden, wenn die Landwirte plötzlich die doppelte Menge an Feldern bewirtschaften können. Und wenn dann auch noch das Aquädukt ins Spiel kommt, wird es ganz komplex.
Wissen und Tech-Tree: Scio me nihil scire
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Wissen fließt in einen großen Technologiebaum, der echte Nadelöhre adressiert. Hafenmodule mit höherem Durchsatz, bessere Lagerlogistik, größere Schiffsladungen, erweiterte Bewaffnung – vieles wirkt wie wohldosierte Medizin gegen typische Anno-Krisen. Besonders gelungen: Upgrades, die die Anzahl notwendiger Zwischenlager reduzieren oder neue Produktionswege und Bedürfnisse freischalten. Damit bleiben komplexe Routen beherrschbar, ohne dass ihr ganze Inselstriche der Produktion einer einzigen Ware widmen müsst.
Schifffahrt, Module und die Kunst der Route
Die Schiffs-Flotte der Römer ist modularer denn je aufgebaut: drei Rumpfgrößen, dazu Ausstattungen von Rudern über verstärkte Hüllen. Die riesigen „Quinquireme“ pendeln zwischen Rohstoffinseln und Zentralhafen; kleine, flinke „Penteconter“ verteilen Feinkost zwischen Nachbarinseln. Anstatt vieler verschiedener Schiffstypen können Spieler:innen ihre Flotten durch das Anbringen von Modulen wie zusätzlichen Segeln, Rammspornen, Bogentürmen oder Katapulten individuell spezialisieren. Die Routenplanung überzeugt mit Wegpunkten, Prioritäten und Füllgrad-Optionen. Was ich mir zusätzlich wünsche, wäre ein klügeres Stacking von Rohstoffen. Zu oft lief eine Route in Engpässe, weil alle Lagerräume mit einer bestimmten Ware halb belegt waren. So bleibt ein Teil Mikroarbeit bei euch – was Serienfans mögen, Einsteiger:innen anfangs aber etwas fordert.
Krieg zu Land und See: Optional, aber sinnvoll eingebettet
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Konflikte lassen sich weitgehend vermeiden, doch wenn es scheppert, dann kommt die geballte Macht römischer Kriegskunst zum Tragen. Landtruppen kosten Unterhalt und Arbeitskraft. Artillerie und Flotte bilden die Speerspitze. Gelungen ist, dass jede militärische Aktion logistische Konsequenzen hat: Waffennachschub, Reparaturhäfen, Versorgungswege – die Wirtschaft bleibt immer Mitspielerin. Ein paar Ecken sind da: Die Wegfindung großer Formationen an Engstellen ist nicht perfekt, amphibische Landungen werden fummelig, wenn die Küstengeometrie gegen euch arbeitet. Ein „Alle Truppen entladen“-Feature wäre hier wünschenswert. Doch der Bellum bleibt ein Nebenkriegsschauplatz in Pax Romana – wer in Ruhe bauen will, kann auch das tun. Schließlich lassen sich die NPC-Gegner:innen auch mit Diplomatie und Nicht-Angriffs-Pakten versöhnen.
Handel, KI und Diplomatie
Die KI handelt nachvollziehbar, aber selten visionär. Sie reagiert auf eure wirtschaftliche und militärische Stärke, nimmt Überproduktion dankbar an, und liefert auf selbst mal Nachschubwaren, wenn Not am Mann oder der Frau ist. Diplomatische Mini-Quests können jederzeit optional an den Kontoren und Leuchttürmen der Mietspieler:innen angenommen werden.
Interface, Komfort und Lesbarkeit
Was mich besonders fasziniert hat ist der Umstand, dass ein so komplexes System wie ein Anno-Spiel auch auf gängigen Konsolen mit einem Controller gespielt werden kann. Die Mainzer haben es verstanden, das komplexe Interface einer Wirtschaftssimulation über die Jahre in intuitive und einfache Bedienelemente zu gießen. Es gibt Tastatur-Shortcuts, ein kreisförmiges Schnellauswahlmenü und belegbare Aktionstasten. Das alles macht Anno 117 zu einem der zugänglichsten Annos, die es je gab.
Das Baumenü ist logisch strukturiert, Kopier- und Verschiebemodus präzise, und die Straßenziehung funktioniert nachvollziehbar. Am besten finde ich in der Tat, dass man einen kompletten Häuserblock per Knopfdruck mit einer Straße umgeben kann. Das Massen-Upgrade merkt sich in Albion, ob man zuerst den keltischen, oder den römischen Weg eingeschlagen hat. Das macht es allerdings etwas mühselig, wenn man auf einer anderen Insel in Albion eben die andere Schiene verfolgen möchte. Dann muss man alle Häuser der Stufe 1 händisch auf Stufe 2 aufwerten. Ähnlich verhält es sich mit Downgrades. Ein versehentliches Massen-Upgrade rückgängig zu machen, entartet teils zur Klick-Orgie.
Präsentation: Klang der Res Publica
Die Musik von Anno 117 kann sich durchaus hören lassen. Akustisch dominieren warme Streicher, Holzbläser und dezente Perkussion. Nach stundenlangem Spielen kann die Musik aber etwas monoton und geradezu penetrant „Ohrwurmig“ werden. Je nach Situation passt sich die Musik auch an Gefahren wie Piratenangriffe oder Brandkatastrophen an. Auch visuell hebt 117 die Anno-Serie auf die nächste Stufe. Wellen branden noch realistischer an die malerischen Küsten, Gebirgsbächlein bahnen sich ihren Weg plätschernd und glitzernd ins Tal. Ist die Insel erst einmal besiedelt, gesellen sich Geräusche des Dorflebens hinzu: Geschwätzige Marktstände, andächtige Tempelzeremonien und plappernde Philosophen stimmen lautstark in das virtuose Treiben ein. Visuell überzeugen diverse Biome und Tageszeiten. Latium badet in Ocker und Olive, Albion dampft in Nebel, Schlick und Schiefergrau. Charakterporträts und Gebäude-Icons sind nur unterscheidbar und stilvoll. Bei einigen Luxusbetrieben der Patrizier:innen hätte ich mir eine Spur mehr Pomp gewünscht – Geschmacksfrage.
Schwierigkeit, Lernkurve und Langzeitmotivation
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Anno 117 ist zugänglich, aber nicht trivial. Die Lernkurve der ersten sechs Stunden ist freundlich, ab Stufe drei zieht die Komplexität spürbar an. Wer bis zu den Patrizier:innen vordringt, wechselt unmerklich vom „Brot-und-Butter“-Spiel zum Luxus- und Logistikmanagement. Genau da entfaltet sich die Langzeitmotivation: Neue Insel, neue Produktionsketten, neue Gottheit. Der Forschungsbaum hat immer die passende Forschung für das nächste Akute Dilemma parat. Nach rund 40 Stunden hatte ich drei sehr unterschiedliche Imperien – ein exzellentes Zeichen.
Fazit zu Anno 117: Pax Romana
Das antike Rom passt zur Anno-Serie wie der Pileus aufs Haupt des Libertus. Endlich treten wieder altertümliche Fertigungsketten mit Holz und Stein an die Stelle von Stahl und Molybdän. Ich kann mir schon so viele mögliche Erweiterungssets wie das unbeugsame Gallien, das exotische Afrika und die Inseln Griechenlands vor meinem geistigen Auge ausmalen. Ägypten wurde ja als erster DLC-Content schon bestätigt. Anno 117: Pax Romana ist die kluge Evolution einer Reihe, die weiß, wo sie herkommt – und wohin sie will. Die neuen Attribute, der spürbare Fortschritt einer Partie zwischen Glauben und Forschung. Das diverse Spielgefühl zwischen Latium und Albion. All das sorgt für jede Menge Abwechslung und Spielspaß. Die Kampagne erzählt eine stimmige, angenehm politische Geschichte und zwingt zu Entscheidungen, die sich auf der Karte niederschlagen.
Unterm Strich dominiert die Faszination: der Moment, in dem eine clever verschaltete Hafenachse eure Versorgungswellen glättet. Die Zufriedenheit, wenn eine Produktionskette durch die geschickte Wahl einer passenden Gottheit nicht mehr eine komplette Insel belegt. Das zufriedene Geschlürfe, wenn eure Adeligen sich ihre Vogelzungen auf Aspik am Gaumen zergehen lassen. Für Annoholiker eine dringliche und absolute Abstinenzwarnung – mit akuter „Nur noch schnell die Route optimieren“-Gefahr. Veni, vidi, addicti eben.