Mehr als nur Nostalgie: Digimon Story: Time Stranger im Review
Es gibt Spiele, bei denen man schon in den ersten Minuten spürt, dass sie eine bestimmte Art von Nostalgie erzeugen werden – nicht, weil sie altbacken wären oder krampfhaft versuchen, nach etwas zu wirken, was sie nicht sind, sondern weil sie an eine Ära erinnern, in der Rollenspiele vor allem Zeit, Hingabe und eine gewisse Verspieltheit verlangten. Digimon Story: Time Stranger fällt genau in diese Kategorie. Obwohl es klar ein Produkt seiner Zeit ist und moderne Komfortfunktionen bietet, schwingt im gesamten Erlebnis eine gewisse Retro-Seele mit, die sich anfühlt wie eine Mischung aus den glanzvollen PS2-Jahren und den ambitionierteren JRPGs der frühen 2010er.
Gleichzeitig versucht das Spiel, sich erzählerisch und spielerisch weiterzuentwickeln. Und genau in dieser Mischung – dem Zusammenführen von Alt und Neu – liegt die große Stärke von Time Stranger. Es ist ein Spiel, das sich nicht dafür entschuldigt, ein klassisches, menülastiges RPG zu sein und das gerade dadurch die Herzen der Spielenden erobert.
In diesem Review möchte ich auf alles eingehen, was Time Stranger ausmacht: die Geschichte, die Figuren, das Kampfsystem, die Progression, die Welt, die Technik – und natürlich darauf, wie sich all diese Elemente im Gesamtbild zu einem der stärksten Digimon-Spiele der letzten Jahre zusammensetzen.
Ein Einstieg mit angezogener Handbremse – aber mit Absicht
Wie so oft bei JRPGs ist der Anfang von Time Stranger eine kleine Geduldsprobe. Bevor der Funke wirklich überspringt, bevor die digitalen Kreaturen ihren Charme entfalten und bevor das Spiel seine mechanischen Stärken zeigt, vergehen ein paar Stunden, die sich deutlich gesetzter anfühlen als der spätere Verlauf.
Man wird langsam an das Szenario herangeführt: ein schwerer Verlust, der in der realen Welt tiefe Spuren hinterlassen hat; ein rätselhaftes Ereignis, das mit der Digitwelt verbunden ist; und eine Figur, die versucht, mit all dem zurechtzukommen. Was auffällt: Man hat sofort das Gefühl, dass die Geschichte ein emotionales Zentrum besitzt und echte Themen anspricht – nicht nur oberflächliche Konflikte, die man schnell abhaken kann. Dennoch braucht es etwas, bis dieses Zentrum wirklich greifbar wird.
Der Prolog wirkt fast so, als wolle das Spiel sehr behutsam sicherstellen, dass wirklich jeder versteht, welche Ausgangslage hier etabliert wird. Manche Hinweise werden etwas zu oft wiederholt, Anweisungen werden breit erklärt, und manche Gespräche drehen sich spürbar im Kreis. Es wirkt nicht schlecht – nur etwas vorsichtig. Doch sobald man die realweltliche Einleitung hinter sich gelassen hat und endgültig in die Digiwelt überwechselt, ändert sich der Ton spürbar. Der Moment, in dem sich die Grenzen zwischen beiden Welten endgültig öffnen, ist der Moment, in dem Time Stranger zum eigentlichen Spiel wird. Und dieser Moment lohnt sich.
Die Digitale Welt Iliad – ein Ort voller Details, Persönlichkeit und Verspieltheit
Sobald man in Iliad ankommt, wird klar, dass die Entwickler*innen extrem viel Liebe in die Welt gesteckt haben. Jede Region wirkt, als hätte man sich bewusst Mühe gegeben, ihr ein spezifisches Thema zu geben – ein visuelles Leitmotiv, das sich über Flora, Architektur, Musik und natürlich die dort lebenden Digimon zieht. Ein Wald voller mechanischer Elemente, in dem Metallblätter wie Windräder klappern; ein Untergrundgebiet, das wie eine Mischung aus Labor und Katakomben wirkt; offene Ebenen voller himmelhoher digitaler Strukturen, die wie Säulen eines zerfallenden Datentempels aussehen – Time Stranger schafft es, vertraute Motive mit digitalen Abstraktionen zu verbinden, ohne die Welt steril wirken zu lassen.
Einer der deutlichsten Pluspunkte des Spiels ist die beeindruckende Bandbreite an Digimon und der liebevolle Aufwand, mit dem sie inszeniert wurden. Fast jedes einzelne von ihnen verfügt über eigene Bewegungsmuster, Reaktionen und Animationen. Manche wirken hibbelig, andere neugierig, wieder andere drehen eine kleine Runde, bevor sie zu ihrer Ausgangsposition zurückkehren. Es hat den Anschein, als hätten die Entwickler*innen versucht, jedem Digimon ein alltägliches Verhalten zu schenken – nicht nur typische Kampfhaltungen, sondern echte Persönlichkeit. Bei einigen möchte man am liebsten die Hand ausstrecken und sie einfach in den Arm nehmen.
Über 450 Digimon bevölkern das Spiel, und erstaunlich viele davon wirken wirklich eigenständig. Mächtige, gottähnliche Kreaturen beeindrucken mit majestätischen Effekten und feierlichen Bewegungsabläufen; kleinere wirken verspielt oder keck; die maschinenartigen Digimon bewegen sich mit einer Präzision, die an kleine Fluggeräte erinnert. Besonders in den ersten Spielstunden erwischt man sich immer wieder dabei, kurz stehenzubleiben und zuzuschauen, wie sich diese digitalen Wesen verhalten, wenn man ihnen einfach ihren Raum lässt.
Aber all das wäre nur hübsche Fassade, wenn die Kämpfe und die Progression nicht mithalten könnten. Glücklicherweise tun sie das – und wie.
Das Kampfsystem: leicht zu verstehen, schwer zu meistern
Auf den ersten Blick scheint das Kampfsystem von Time Stranger ein klassisches, rundenbasiertes JRPG-System zu sein. Drei aktive Digimon, eine Zugreihenfolge, Attacken mit Elementen, Fähigkeiten mit unterschiedlichen Kosten – alles wirkt vertraut.
Doch diese Einfachheit ist nur die obere Schicht. Sobald man sich intensiver mit der Mechanik beschäftigt, merkt man schnell, dass das System erstaunlich tief ist. Die Kombination aus verschiedenen Schwachstellen – Typen, Elemente, Traits – sorgt dafür, dass man selten nur „irgendeinen“ Angriff nutzt. Stattdessen plant man stetig: Welche Eigenschaft lässt sich mit welcher Attacke verbinden? Wie kann ich für den nächsten Zug die Zugreihenfolge beeinflussen? Welche Reserve-Digimon sollte ich einwechseln, um eine Kette zu verlängern?
Bosskämpfe sind das Herzstück
Normale Kämpfe sind oft Routine – ein paar Attacken, gelegentlich Auto-Battle, fertig. Doch die Bosse des Spiels ziehen alle Register. Viele besitzen Mechaniken, die sich mit jeder Phase verändern. Manche verlangen gezielt Defensive statt Offensive. Andere bestrafen hektisches Agieren oder belohnen geduldige Vorbereitung. Bei einigen Kämpfen denkt man zunächst, man sei zu schwach, nur um später festzustellen, dass man einfach die Mechanik falsch gelesen hat.
Das System auf einen einfachen Nenner zu bringen wäre unfair. Es ist nicht überfordernd, aber auch nicht banal. Es wirkt so, als wolle es Spielenden die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, wie tief sie wirklich einsteigen möchten. Wer nur die Story erleben will, kann viele Kämpfe mit gut gelevelten Partnern lösen. Wer jedoch Spaß an komplexer Strategie hat, findet hier ein System, das genug Tiefe bietet, um stundenlang zu experimentieren.
Digitation – ein riesiges Netz an Möglichkeiten
Einer der größten Reize der Digimon-Reihe war für mich immer schon das Entwickeln und Verzweigen der eigenen Partner. Time Stranger knüpft genau daran an und präsentiert ein besonders flexibles System, das sich wie ein weit verzweigtes Netzwerk aus Möglichkeiten anfühlt. Jeder Pfad öffnet neue Optionen, manche Abzweigungen führen in Richtungen, die man nicht unbedingt erwartet, und viele Digimon verfügen über Weiterentwicklungen, die zwar logisch erscheinen, aber im Detail dennoch überraschen können.
Auch hier zeigt sich, wie bewusst die Entwickler*innen vorgegangen sind: Zu Beginn wird man nicht mit Optionen überflutet, gleichzeitig deuten die Menüs schon früh an, welche Bedingungen später wichtig werden. Dadurch kann man seine Digimon gezielter formen als noch in älteren Teilen wie Digimon World. Einige Digitationen verlangen spezielle Werte oder Gegenstände, sodass bestimmte Bereiche des Evolutionsnetzwerks erst im späteren Spielverlauf erreichbar sind. Insgesamt entsteht eine Progression, die sich angenehm organisch entfaltet – von den einfachen Rookie-Stufen über Champions und Ultimates bis hin zu Megas und darüber hinaus.
Wer mit seiner Entscheidung irgendwann unzufrieden ist, kann ohne größere Hürden in eine frühere Form zurückkehren und einen neuen Pfad einschlagen. Allerdings kann das Erreichen bestimmter benötigter Werte mitunter zur Geduldsprobe werden und einige Stunden Trainingsarbeit bedeuten. Wer diese Phase abkürzen möchte, hat die Möglichkeit, ein zusätzliches DLC zu erwerben, das schnellere Ressourcen- und Erfahrungsgewinne bietet. Dass dieses Paket separat bezahlt werden muss, sorgt bei manchen Spielenden für Verstimmung – vor allem angesichts des ohnehin hohen Preises der Ultimate Edition.
Besonders gelungen finde ich den Einbau der Persönlichkeitswerte. Die Unterhaltungen mit dem eigenen Partner-Digimon wirken sich auf seine Eigenschaften aus, und diese beeinflussen wiederum mögliche Digitationen oder Stat-Schwerpunkte. Dieses System belohnt die Bindung zum Begleiter und erhöht gleichzeitig den spielerischen Nutzen – eine schöne Verbindung aus Atmosphäre und Mechanik, die für mich den Kern von Digimon stärker einfängt als viele Elemente anderer Monster-RPGs. Die Beziehung zum Digipartner wird nicht nur erzählt, sondern tatsächlich spürbar.
Angenehm ist zudem, dass die Parametergrenzen deutlich großzügiger ausfallen als in früheren Story-Ablegern. Ständiges Mikromanagement fällt weitgehend weg; stattdessen entsteht das Gefühl, dass sich das eigene Digimon wirklich weiterentwickelt – nicht nur in Stärke und Größe, sondern auch in seiner Bedeutung für das Team. Genau dieses Zusammenspiel aus Wachstum, Experimentieren und emotionaler Bindung verleiht dem Evolutionssystem in Time Stranger seine besondere Wirkung.
Nebenmissionen: zwischen charmant und repetitiv
Time Stranger ist ein Spiel, das keine Angst vor Nebenmissionen hat – und das merkt man. Es gibt viele. Wirklich viele. Manche sind kleine Geschichten, die mit sympathischen Digimon zu tun haben. Andere sind simple Botengänge. Wieder andere führen zu völlig absurden, witzigen Situationen, wie man sie nur aus dem Digimon-Universum kennt.
Einige dieser Missionen eröffnen überraschend emotionale oder humorvolle Mini-Arcs, die mehrere Kapitel umfassen. Andere sind nach wenigen Minuten beendet und dienen vor allem dazu, Ressourcen zu sammeln. Kurz vor dem Finale wird man regelrecht mit neuen Missionen überschwemmt – eine bewusste Designentscheidung, die an alte JRPGs erinnert, die kurz vor den letzten Herausforderungen sämtliche optionalen Stränge öffnen. Wer Sidequests liebt, wird sich hier austoben können. Wer sie ignoriert, verpasst zwar interessante Charaktermomente, aber nichts, was den Storyfortschritt blockiert – abgesehen von manche Ressourcen für bestimmte Entwicklungswege, die man nur über diese optionalen Inhalte erhält.
Die Figuren: unperfekt, aber menschlich
Die Menschenseite der Figuren ist zweischneidig. Einerseits sind die menschlichen Charaktere anfangs wenig greifbar und wirken fast schon wie eine zweite Ebene, die nur existiert, um die Handlung in Bewegung zu halten. Andererseits entfalten einige von ihnen, allen voran die zentrale Nebenfigur, im späteren Verlauf echte Tiefe.
Es ist der Umgang mit Verlust, Trauer, Verantwortung und Schuld, der dem Spiel seine emotionale Tragweite verleiht. Die Gespräche zwischen bestimmten Charakteren wirken nie kitschig, sondern eher ehrlich und unsicher – wie echte Menschen, die versuchen, eine Situation zu begreifen, die größer ist als sie selbst. Ein kleiner Wermutstropfen ist allerdings, dass die Dialoge der Hauptfigur nicht vertont sind und gerade in emotional aufgeladenen Momenten fehlt dadurch oft die letzte Nuance, die eine Szene wirklich tragen würde.
Die Digimon sind hingegen das eigentliche Herzstück der Charakterdarstellung. Sie sind witzig, schrullig, nervig, verspielt, ernst oder sogar würdevoll – und oft zeigt sich in kleinen Animationen oder Nebenreaktionen eine Persönlichkeit, die weit über das hinausgeht, was man aus den älteren Story-Ablegern kennt.
Technik & Präsentation: beeindruckend, aber nicht perfekt
Die technische Umsetzung variiert je nachdem, welchen Aspekt man betrachtet. Die Digimon-Modelle gehören zu den besten, die die Serie je hatte. Effekte, Angriffsanimationen, die Darstellung bestimmter Special Moves – alles ist mit spürbarer Hingabe umgesetzt. Die Umgebungen sind atmosphärisch, auch wenn man gelegentlich merkt, dass einige Texturen eher zweckmäßig wirken. Die Musik ist stimmungsvoll und passt gut zu den jeweiligen Bereichen, ohne sich zu sehr in den Vordergrund zu drängen.
Was allerdings altbacken wirkt, ist die Benutzeroberfläche. Viele Menüs sind verschachtelt, Fast Travel ist unnötig umständlich, und manche Interaktionen erfordern mehr Schritte, als eigentlich nötig wären. Man gewöhnt sich daran, aber es ist im direkten Vergleich zu modernen JRPGs ein klarer Rückschritt.
Das Gesamtbild: ein modernes JRPG mit Retro-Seele
Wenn man Digimon Story: Time Stranger nach vielen Stunden beendet, bleibt ein Gefühl von Zufriedenheit zurück. Nicht, weil alles perfekt wäre – das ist es nicht. Aber weil das Spiel weiß, was es sein will und was es nicht sein muss. Es will kein Actionfeuerwerk sein. Es will kein grafisches Spektakel sein. Es will kein Open-World-Monster sein. Es will ein Rollenspiel sein, das dich an die Hand nimmt, dich lachen lässt, dich fordert, dich überrascht und dir eine Welt gibt, in der du dich verlieren kannst. Und in dieser Hinsicht erfüllt es sein Ziel mit Bravour.
Die Mischung aus emotionaler Story, strategischem Kampfsystem, gigantischem Digivolution-Netz und liebevoll gestalteter Digiwelt ergibt ein Gesamtpaket, das lange nachhallt. Selbst wenn man alle Nebenmissionen ignorieren würde, bliebe noch genug Substanz übrig, um viele Stunden gut unterhalten zu sein. Die kleinen Schwächen – der träge Einstieg, die UX-Unordnung, die gelegentlich redundanten Hinweise – verblassen im Vergleich zu den Stärken.
Zudem bietet es mit den verschiedenen Outfits für die Hauptcharaktere und die Möglichkeit, die Lieder der Anime Serien zu erwerben, ein paar nette Gimmicks, die die Nostalgie aus Kindertagen wieder aufleben lässt. Diese Details runden das Spiel zusätzlich ab.
Kleiner Hinweis für alle, die noch auf der Suche nach dem passenden Weihnachtsgeschenk für Fans der Serie sind – Digimon Story: Time Stranger gibt es bei Steam und bei Xbox aktuell im Angebot. Im Dezember wurde überdies ein zusätzliches DLC mit dem Namen Alternate Dimension veröffentlicht, mit dem ihr noch mehr Zeit in der Digiwelt verbringen könnt.
Fazit: Eine Rückkehr in die Digiwelt, die sich lohnt
Digimon Story: Time Stranger ist eines dieser Spiele, die auf den ersten Blick wie ein klassisches JRPG wirken, aber im Kern überraschend modern sind. Es ist anspruchsvoll, wenn man sich darauf einlässt, aber auch zugänglich genug, um Neueinsteigern nicht die Freude zu nehmen. Es ist emotional, ohne kitschig zu sein, und verspielt, ohne albern zu werden. Es respektiert das Erbe der Reihe, ohne sich davor zu scheuen, neue Ideen einzubringen. Es ist eines der besten Digimon-Spiele, die wir seit sehr langer Zeit bekommen haben.